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Barbara Heinrich (Kunsthistorikerin, Kuratorin Friedericianum Kassel) anläßlich des Künstlergesprächs zur Ausstellung “da zwischen” 20.10.01, Alte Pfarrei Niederurff

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“Du siehst, mein Freund, zum Raum wird hier die Zeit” ... dieses Zitat aus Goethes “Faust” umschreibt auf hervorragende Weise die Arbeiten und den Arbeitsprozess der 1964 geborenen Künstlerin Christine Wassermann, denn Zeit und Raum spielen in ihrem Werk eine zentrale Rolle, sowohl hinsichtlich des Entstehungsprozesses als auch in den Arbeiten selbst.

Zeiträume zu definieren, ist der Versuch, Zeit einzugrenzen, sie zu messen, sie sichtbar zu machen. Zeiträume haben einen Anfang und ein Ende und bleiben doch nach beiden Richtungen offen, denn es gibt immer ein davor und ein danach.

1. Der zeitliche Aspekt / die Entstehung:

Die Arbeiten von Christine Wassermann entstehen über viele Wochen und Monate hinweg, sind geprägt von Kontinuität und Dauer und unmittelbar an das Leben der Künstlerin gebunden.

Das Werk lässt zwei Interpretationsmöglichkeiten zu: Zum einen lassen sich die Arbeiten als Akt des wiederholten Innehaltens verstehen, mit dem Ziel, bestimmte festgelegte Punkte im linearen Strom der Zeit festzuschreiben.

 Beispiel: 5.7. – 27.8. 2001 (Abdrücke).

Seit Juli 1999 schneidet sich die Künstlerin am Ende eines Tages ein 4-eckiges Stück Transparentpapier zurecht, datiert es mit Bleistift, streicht es mit Kleister ein, drückt das Papier an ihr Gesicht, lässt es darauf einen Moment antrocknen, hebt den Abdruck vorsichtig wieder ab und versucht ihn mit beiden Händen in eine möglichst neutrale Form zu ziehen, die sich dann während des Trocknungsprozesses verfestigt. Zugleich erstellt sie in einer Art Tagebuch eine Auflistung des genauen Zeitpunktes jeder Abnahme.

In Form einer einfachen, sich wiederholenden Tätigkeit als Ritual entstehen so kleine transparente Gebilde, plastische Formen, welche die Künstlerin dann wieder in den Zusammenhang einer größeren skulpturalen Installation stellt, indem sie sie zwischen zwei Glasplatten montiert. Sie macht die transparente Form damit im doppelten Sinne transparent: das Glas erlaubt es uns, die Formen von allen Seiten zu betrachten, auch durch sie hindurchzusehen, Spuren des Entstehungsprozesses zu verfolgen, die uns wiederum auf die Spur der Künstlerin bringen, denn immerhin handelt es sich ja - wenn man so will - um Selbstporträts. Und auch die Leerstellen innerhalb der Plastik verweisen auf das Leben der Künstlerin: sie stehen für Tage an denen, aus welchen Gründen auch immer- kein Abdruck genommen wurde.

Die Arbeiten von Christine Wassermann lassen sich aber auch unter einem eher existentiellen Aspekt interpretieren, als Ausdruck des Ablaufs der Zeit, als Torso eines Tagebuchs.

Beispiel: „da zwischen“

Zu sehen ist eine Installation aus vier unterschiedlich hohen, stehpultartigen Gestellen aus Holz. Auf jedem dieser Gestelle befindet sich jeweils ein metallischer Aufsatz, der von unten beleuchtet ist. In den Kästen schwarzes Papier auf dem sich merkwürdige Zeichen und Ornamente unterschiedlicher Stärke finden. Bei genauerer Betrachtung lassen sich einzelne Buchstaben erkennen, auch Worte, Sätze, Zeichnungen. Tatsächlich handelt es sich um Kohlepapiere, welche die Künstlerin bei ihrem alltäglichen Schriftverkehr verwendet. Spuren ihres Lebens haben sich hier eindrücklich versammelt, die - wenn wir ihnen folgen und versuchen sie zu entziffern - uns vielleicht Auskunft geben können über die Autorin.

2. Der räumliche Aspekt / die Skulptur

Christine Wassermann präsentiert ihre Arbeiten als Skulpturen oder Installationen, die frei im Raum stehen, Raum einnehmen, um sich greifen. Diese Art der Präsentation ist nicht zufällig, sie ist bewusst gewählt, denn bei der Betrachtung der Arbeiten spielt der sie umgebende Raum eine wesentliche Rolle. Wie jede klassische Vollplastik erschließen sich diese Werke nur, wenn man sie umrundet, sich um sie herum bewegt, sie von allen Seiten anschaut. Sie fordern die Bewegung des Betrachters, die aktive Beteiligung - dazu gehört auch, dass man notfalls in die Hocke geht. Die Bewegung macht uns den Raum bewusst - und damit wiederum die Zeit, die wir brauchen, um uns zu bewegen.

Zeit, Raum, Bewegung - drei Begriffe, die auch bei der dritten, im Artgarten gezeigten Arbeit von Bedeutung sind.

Es handelt sich dabei um ein Teil der mehrteiligen Arbeit „Zeitschränke", 1996-99

In diesen Schränken lagern Gegenstände, welche die Künstlerin in der Zeit zwischen 1996 und 1999 gefunden und zu Bestandteilen ihres Material-Depots erklärt hat. Zeit-Räume im wahrsten Sinne des Wortes. Betrachtet man ihren Inhalt, lässt sich wiederum einiges über das Leben der Künstlerin zu einem bestimmten Zeitpunkt aussagen. Ein komplexes Spiel von zeitlichen und inhaltlichen Bezügen. Durch das Überdauern in der Zeit werden die Schränke zu Zeitzeugen, bilden eine Art Gedächtnis.

Bisher waren diese Schränke nur im Kontext des Ausstellungsraumes zu sehen. Indem nun einer von ihnen in den Außenraum gestellt wird, erfährt die Arbeit eine Erweiterung, es kommt ein neuer Aspekt hinzu: die Auseinandersetzung mit der Natur, mit den natürlichen Prozessen des Werdens und Vergehens. Und hier kommt die Bewegung ins Spiel. Nicht nur dass die Veränderung des Kunstwerks durch die natürlichen Alterungs- und Verwitterungsprozesse selbst eine - wenn auch langsame und unmerkliche - Bewegung darstellt, sondern auch vom Betrachter selbst ist wiederum Bewegung gefordert: will man den zeitlichen Prozess verfolgen, die Veränderungen sehen, so muss man immer wieder kommen, betrachten und vergleichen.

Skulptur im herkömmlichen Sinne ist auf Dauer, auf Überdauern angelegt. Anders bei dem „Zeitschrank" von Christine Wassermann: hier wird die allmähliche Veränderung bestimmter Stoffe zum skulpturalen Prozess (die Natur zum Künstler). Die Dokumentation mittels Fotografie bedeutet dabei selbst wieder einen künstlerischen Akt..”

... (Auszug)

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