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Ulfried Weingarten , Kunstverein  Schwerte
Einführung zur Ausstellungseröffnung "Zeiträume" am 29.1.1999

  • 1. Gedanken über die Zeit
  • 2. Die "Zeiten" als subjektive Größe und die Einbeziehung des Betrachters
  • 3. Die konkreten Werke
  •     a. Zeitschränke
  •     b. Tafeleinstellungen
  •     c. Grundregale                                                                                                                                

Wir befinden uns alle hier in einem Zeitraum. Genauer müßte ich sagen, wir befinden uns innerhalb
eines Zeitraums - nämlich zwischen dem 29.1. und 28.2. 1999 - in einem Raum der Ausstellung
"Zeiträume", die ihrerseits verschiedene Zeiträume repräsentiert und zwar u.a. in Form von
Zeitschränken; diese wiederum enthalten und präsentieren Gegenstände, die ihrerseits einen konkreten
Zeitraum repräsentieren.

Schalten Sie nach diesem Satz bitte nicht schon ab! Es ist sicher nicht ganz so wichtig, dass man den
Inhalt dieses Gedanken- und Wortspiels ganz genau nachvollzieht, ich möchte eigentlich damit nur
deutlich machen, dass die hier ausgestellten Arbeiten von Christine Wassermann auf sehr
verschiedenen Ebenen funktionieren, nämlich auf einer sprachlichen und auf der Ebene der
Kunstwerke selbst, aber auch auf der Ebene der Dinge, die diese Kunstwerke ausmachen, und dass sie
an den Betrachter unterschiedliche Anforderungen stellen und zwar - wie das bei bildender Kunst so
üblich ist - zu allererst auf dem Gebiet der Wahrnehmung, aber auch auf dem Gebiet der Bedingungen,
unter denen man diese Kunst betrachtet. Auf einige Besonderheiten, die mir aufgefallen sind, komme
ich gleich noch einmal zu sprechen.

Zunächst möchte ich eine Anregung geben, einmal über "Zeit" nachzudenken. Wenn Sie jetzt im
Augenblick damit beginnen, bin ich sicher, dass in jedem Kopf der hier Anwesenden etwas ganz
anderes vor sich geht.

Einerseits wollte man heute um 20.00 Uhr zur Ausstellungseröffhung hier sein; vielleicht denken
andere, dass über die Zeit nachzudenken am Wochenende möglicherweise einmal Zeit sein wird, und
angesichts der bevorstehenden Jahrhundert- bzw. Jahrtausendwende empfahl ausgerechnet die
Wochenzeitung "Die Zeit" in ihrer ersten Ausgabe des Jahres, dass man sich nicht als Wesen dieses
Jahrhunderts als relativ kleinem Zeitraum, sondern als Menschen dieses Jahrtausends verstehen solle,
womit dann Goethe und Schiller, Beethoven und Mozart zu unseren Zeitgenossen werden.

Zeit ist also ein schwer zu fassender Begriff, auch Zeiträume sind an ihren Grenzen unscharf, obwohl
wir doch im Sport den Weltmeistertitel an Bruchteilen von  lOOstel Sekunden festmachen.
"Der Zeitbegriff hat sich im Laufe der Jahre verändert. Bis zum Anfang des Jahrhunderts glaubte der
Mensch an eine absolute Zeit. Man war überzeugt, dass sich jedem Ereignis eine Zahl, die man "Zeit"
nannte, eindeutig zuweisen lasse und das alle zuverlässigen Uhren das Zeitintervall zwischen zwei
Ereignissen übereinstimmend anzeigten... Nach der Relativitätstheorie hat jeder Beobachter sein
eigenes Zeitmaß, das eine von ihm mitgeführte Uhr registriert. ... So wurde die Zeit zu einem
persönlichen Begriff, abhängig von dem Beobachter, der sie mißt." (So Steven W. Hawking in seinem
Buch "Eine kleine Geschichte der Zeit".)

Lange schien auch die Zeit und insbesondere die Zeitmessung, durch die ja Zeiträume erst entstehen
konnten, etwas mit Bewegung zu tun zu haben. Zunächst las man an der Bewegung der Gestirne die
Zeit ab und entwickelte letztlich auch daraus die Sonnenuhr; dann gab es die Zeitmessung mit Hilfe
der Sanduhr. Zeitmaß war das Rieseln des Sandes von einem Glaskolben in einen anderen. Auch die
Zeiger-Uhr machte in der Bewegung der Zeiger die Zeit sinnfällig deutlich, ließ vor allem auch
erkennen, dass es ein Vorher und Nachher gibt. Die heute überwiegend verwendete digitale Uhr
verzichtet auf die Angabe von Vorher und Nachher, sie zeigt mit jedem Blinken der Sekundenpunkte
zwischen den Ziffern das Jetzt, Jetzt, Jetzt..., so daß Zeit nur als eine Aneinanderreihung von
Zeitpunkten gesehen werden kann.

 

Die in unserer Ausstellung gezeigten Arbeiten von Christine Wassermann beziehen sich auf alle drei
der hier angerissenen Gedanken.

Der Zeitstrahl funktioniert als Kontinuum, als zusammenhängendes Ganzes, nicht mehr. So
repräsentieren alle drei Arbeiten dieser Ausstellung sehr unterschiedliche Zeiträume, die sich teilweise
überlappen oder ineinander verschachtelt sind. So sind die Tafel in Raum drei ("Tafeleinstellungen")
ein individuell abgeschlossener Zeitraum von einer Woche innerhalb der Zeitschränke, die wir als zu
einer Seite offenen Zeitraum erkennen. Sehr subjektiv werden diese Zeiträume von uns
wahrgenommen. Die Gegenstände in den Zeitschränken haben alle ihre eigene Geschichte und fordern
dazu heraus, sie mit der uns eigenen, persönlichen Geschichte zu vergleichen. Die Gegenstände sind ja
im wesentlichen AIlerweltsgegenstände, die jeder von uns auch hätte finden können, die
möglicherweise auch in den eigenen vier Wänden zu finden sind. Wie anders haben wir aber die Zeit
wahrgenommen, in der wir mit unseren Gegenständen umgegangen sind, ohne von den anderen zu
wissen (obgleich sie äußerlich identisch scheinen), da nicht nur die Gegenstände, sondern auch z.B.
die Zeiten ihrer Nutzung getrennt und unabhängig von einander existierten. Wir bringen sie nun in
unseren Vorstellungen zusammen, indem wir die eigene Zeit erinnern und für die gesehenen
Gegenstände im Kopfeine Zeit konstruieren, die als möglicherweise dritte Zeit mit der Zeit der
Gegenstände selbst gar nichts zu tun haben muß.

"Nichts ist, das ewig sei", klagt der Barockdichter Andreas Gryphius, "Nichts ist, das ewig sei, kein
Erz, kein Marmorstein."

Erz und Marmorstcin, die traditionell kunstwürdigen Materialien, bietet Christine Wassermann uns gar
nicht erst an. Auf den von ihr verwendeten Materialien hat die Zeit bereits ihre Spuren hinterlassen.
Und über das Material provoziert die Künstlerin geradezu die vor Gegenwartskunst immer wieder zu
hörende Äußerung: "Das kann ich auch!" Ausdrücklich bestätigt Christine Wassermann diese
Äußerung und tritt letztendlich den Beweis an, den so viele schuldig bleiben, wenn sie die Das-kann-
ich-auch-Behauptung aufstellen. In ihrer jüngsten Arbeit, den hier erstmals gezeigten
"Tafeleinstellungen", hat sie Menschen eingeladen, auf eine ihnen zugeschickte Tafel über eine
Woche hin ihnen wichtige Begebenheiten festzuhalten. Die Tafeln sind überwiegend von Nicht-
Künstlern gemacht und die von Künstlern stammenden nicht in deren Funktion als Künstler. Christine
Wassermann fügt diese von anderen beschriebenen Tafeln zur Installation zusammen, vereinigt über
den Zeitraum von einer Woche wichtige Gedanken von Mensch, die sich zum größeren Teil nicht
kennen oder nicht vom Tun des anderen wissen. Sie stellt damit nicht nur den Künstler als den großen
"Macher" in Frage und gibt dem normalerweise als Betrachter sich verstehenden Menschen ein
anderes Selbstbewußtsein der Kunst gegenüber, vielleicht ein anders Selbstwertgefühl; sie zeigt mit
den Tafeln auch auf, dass sich die Sorgen und Freuden des Alltags bei den Schreinern, Professoren,
Lehrern, Rentnern sehr ähnlich sind, sodass der Blick nach oben, hinauf zur "Hohen Kunst" auch
daher unangemessen erscheint.

Im Wuckenhof haben wir auch noch keine Ausstellung gezeigt, bei der wir den Blick so selten
geradeaus oder leicht erhoben halten können wie normalerweise beim Anschauen von Bildern,
sondern hier gehen wir eher mit dem Blick nach unten gerichtet, gehen in die Hocke, um mit der
Kunst auf einer Ebene zu sein und müssen keine Sockel erklimmen - und sei es nur mit dem Blick. Die
Kunst des an der Wand hängenden Bildes ist für Christine Wassermann Vergangenheit, ein
abgeschlossener Zeitraum. Schaumstoffrakel und die am Ende mit Fußbodenlack versiegelten Bilder
stehen in den Grundrcgalen aufgereiht, ohne dass sie jedoch ihren malerischen Reiz ganz verloren
hätten.

Wenn wir uns mit der Kunst auf eine Ebene begeben, gibt es eine Menge zu entdecken. Ich wünsche
Ihnen viel Erfolg bei diesem Bemühen und denken Sie daran: Nur in einem befristeten Zeitraum
besteht die Gelegenheit, sich mit den "Zeiträumen" auseinanderzusetzen. Vieles macht den Eindruck
des Provisorischen, deutlich nur auf Zeit Angelegten, alles scheint schnell wieder abzubauen,
beweglich. Auch in diesen Räumen ist die Kunst für einen bestimmten Zeitraum nur Gast.
Ich wünsche Ihnen jedoch nicht nur einen erkenntnisreichen, sondern- wie immer mit der Kunst - auch
einen vergnüglichen Abend
.

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